Der Monolog der guten Nachbarin in Zeiten der Ausgangssperre

„Das ist doch super : keine Staus mehr, kein Gedränge, keine ungewollten Begegnungen mehr mit Unbekannten.“

paru dans lundimatin#, le 16 mai 2020

Juli 2020, die Ausgangssperren werden verschärft und die „wachsamen Nachbar*innen“ sind im Aufwind... Die folgende Semi-Fiktion ist das zeitlich versetzte Echo des analytischen Beitrags, den wir gleichzeitig unter dem Titel „Vorsicht vor den politischen Folgen der Ausgangssperre“ veröffentlicht haben.

  1. Juli 2020
    Unsere Nachbarin ist schon wieder auf der Straße. Das ist doch unglaublich. Diese Leute, die glauben, dass sie sich alles erlauben können. Egoisten [1], die uns alle in Gefahr bringen. Das macht mich rasend. Warum bleibt sie nicht zuhause wie alle anderen ? Unter dem Vorwand, sich die Beine vertreten zu wollen oder frische Luft zu schnappen – für wen hält die sich eigentlich ? Dabei fand ich sie eigentlich immer ganz nett, diese Frau Vernon, eine solide, ordentliche Person, die zwei Mal am Tag gekocht hat und die hier im Viertel nie irgendwelche Probleme gemacht hat. Aber was zu viel ist, ist zu viel. Wenn sie noch mal vorbei läuft, werde ich ihr zweifelhaftes Verhalten wohl melden und die Polizei verständigen müssen. Man kann diese Leute, die uns alle in Gefahr bringen, einfach nicht länger tolerieren. Ihr Verhalten ist unvernünftig und unverantwortlich. Diese Leute verstehen einfach nicht, was das gerade bedeutet. Wenn man bedenkt, dass mein Hervé sich sogar die Mühe macht, die Post mit seiner großen Klammer zu holen, um sie nicht zu berühren. Und dann seh’ ich ihn mit der Klammer und einer Schere hantieren, um die Briefe aus dem Umschlag zu bekommen, ohne sie zu zerreissen. Warum machen wir uns eigentlich all die Mühe, den Virus zu stoppen, indem wir alle Kontakte beschränken, sogar die ganz indirekten wie zur Postbotin, während andere Leute seelenruhig spazieren gehen, die Landschaft genießen und sich einen Moment körperlicher Bewegung im Grünen gönnen ?! Diese Leute wissen wohl nicht, dass sie den Virus mit sich tragen und weiterverbreiten können.

Vor ein paar Tagen wurde über den Vorschlag eines Punktesystems diskutiert. Für die guten und verantwortungsbewussten Bürger, die die Bedrohung, die auf uns allen lastet, ernst nehmen, die Angst haben und ihr Verhalten entsprechend angepasst haben, würde es Bonuspunkte geben, mit denen wir von Zeit zu Zeit mal ein bisschen weiter rausfahren könnten. Die anderen, die Frischluft-Genießer, die die Regeln zu unserer aller Wohl nicht einhalten, die es nicht schaffen, mal zwei Wochen abzuwarten, bis sie wieder mal ihr Haus verlassen dürfen, würden Minuspunkte bekommen. Ich bin mir sicher, dass das hervorragend funktioniert hätte, durch Belohnung und durch Bestrafung. Außerdem gab es bei einigen Testläufen in verschiedenen Städten schon sehr viele Anrufe, um Nachbarn, die es nicht lassen konnten hinauszugehen, bei der entsprechenden Stelle anzuzeigen. Aber diese Maßnahme wurde letzten Endes leider noch nicht umgesetzt.

Und warum beschweren sie sich überhaupt über die Ausgangssperren ? Alles läuft doch besser. Die Hightech-Firmen haben sich sehr schnell auf die Situation eingestellt, um unser Leben zu erleichtern. Der Fortschritt hat uns aus der Affäre gezogen. Seit gut einem Monat habe ich jetzt meinen Teldisplay [2]. Das ist super, mit Christelle, Nathalie und Yvette kann ich mich jetzt darüber treffen. Wir sehen uns auf dem großen Display, wir reden, wir verbringen Zeit miteinander. Letztens haben wir uns sogar um halb eins verabredet und gemeinsam gegessen, jede mit ihrem Teller vor ihrem Bildschirm. Das war echt nett und hat uns an die Mittagessen auf Arbeit erinnert. Meine Sportkurse mache ich jetzt auch online, auf meinem Teppich, bevor ich das Frühstück für die anderen mache. Mit dem Teldisplay kann ich sonntags meine Schwester anrufen und meinen Kleinen dabei zuschauen, wie sie mit ihr spielen und reden. Es ist so schön, sie groß werden zu sehen. Wir können auch ohne Kontakt zusammen sein, dank dieser neuen Kommunikationsmittel.

Natürlich werden einige Meckerer jetzt sagen, dass noch nie so viele seltene Erden in den chinesischen Minen abgebaut wurden. Diese technischen Geräte für die Nähe auf Distanz würden bei ihrer Herstellung wertvolle Ressourcen und Plastik verbrauchen, ganz zu schweigen von ihrem Energieverbrauch bei der Nutzung, natürlich Kernkraft, radioaktiver Müll, Atomstrom nein danke und blabla. Diese ewigen Bedenkenträger ! Obwohl diese Technik uns rettet, obwohl wir keine physischen Kontakte mehr haben dürfen und uns diese Teldisplays helfen, trotzdem familiäre Bande zu pflegen und Freunde zu sehen, fühlen sich einige bemüßigt, daran herumzukritisieren. Furchtbar, diese Angewohnheit, alles zu kritisieren, immer misstrauisch zu sein, bei all diesen Fragen immer auf der Hut zu sein.

Das einzige wirkliche Problem in Bezug auf soziale Kontakte ist die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung. Weil die Leute sich nicht an die Anweisungen halten und den gesunden Menschenverstand ausschalten. Weil die Leute die Situation genutzt haben, um auf der Uferpromenade zu spazieren, ohne das Ausmaß ihrer Verantwortungslosigkeit in dieser Situation zu erkennen, mussten die Polizei, das Ordnungsamt, die Bundespolizei, sogar die Feldjäger und andere Sicherheitskräfte Posten beziehen, um zunächst unangekündigt und dann systematisch jede Person, die draußen unterwegs ist, zu kontrollieren. Was für eine Selbstlosigkeit und Aufopferungsbereitschaft im Dienste der Gesellschaft ! Ich verstehe überhaupt nicht, was meine Nichte Céline daran auszusetzen hat. Sie hätte gesehen, wie Polizistengruppen, die Cowboy in Uniform spielten, bewaffnet, mit den Händen in der Tasche und mit breiter Brust und Macho-Haltung, enorme Freude daran hatten, zu kontrollieren und zu jedem Anlass mit moralisierenden Sprüchen um sich zu werfen. Als ob sie ihre Autoritätsposition auskosten würden und Spaß an ihrer Macht hätten. Céline sieht wieder überall nur das Schlechte ! Als ob die Tatsache, dass die Polizisten in Gruppen arbeiten, sie dazu verleiten würde, untereinander keine Fragen zu stellen und blindlings den Befehlen aus dem Ministerium und aus der Präfektur zu gehorchen. Sie spricht dieser Behörde jegliche Intelligenz ab. Dabei sind das doch Individuen, die sich entschieden haben, ihrem Land und dessen höheren Interessen zu dienen. Diese Leute sind, wie die Ärzte, die Helden unserer Zeit.

Glücklicherweise wurden einige Maßnahmen ergriffen, um die Leute, die Recht und Ordnung aufrechterhalten, zu schützen. Drohnen, die vorher so verunglimpft wurden, leisten gute Dienste. Anfangs wurden sie genutzt, um automatisch Leute aufzuspüren, die sich in verbotenen Bereichen aufgehalten haben, und sie darüber in Kenntnis zu setzen, dass sie gegen die Gesetze verstoßen und schnellstmöglich wieder nachhause gehen sollen. Diese technischen Juwelen haben unglaubliche Wirkungen in den Städten gezeigt : auf den Uferpromenaden an der Rhône, an der Saône, der Garonne oder der Doubs oder auch auf den großen Plätzen. Sogar auf dem Land sind sie wirkungsvoll, weil sie theoretisch jederzeit auftauchen könnten. Die Drohung steht in der Luft und man stellt sich darauf ein. Jeder Weg nach draußen ist nun reiflich überlegt. Mittlerweile werden die Drohnen aber auch manuell gesteuert, um die Ordnungshüter noch besser schützen zu können. Auf diese Weise können auch Einzelpersonen verfolgt werden. Zusammen mit der Gesichtserkennung haben es diese geflügelten Beobachtungsposten möglich gemacht, gefährliche Personen zu identifizieren, die weiterhin ihr Haus verließen, Spaziergänge machten oder sogar darauf hofften, sich mit ihren Bezugspersonen oder in ihren Politgruppen zu treffen. Diese Leute sind unverantwortlich und eine Gefahr für sich und für andere. Und sie sind verantwortlich für das, was passiert. Ich würde mir, ehrlich gesagt, wünschen, dass sie Corona bekommen. Das würde ihnen recht geschehen. Und man sollte sie dann nicht behandeln. Die Ärzte mit ihrem Berufsethos, alle zu behandeln, sind viel zu gutmütig. Ich finde ja übrigens auch, dass es uns viel zu lange viel zu gut ging mit unserem Sozialsystem und dem Gerichtssystem für alle. Wenn das Verbrechen nicht zu leugnen ist, warum dann noch Zeit mit der Gerichtsverhandlung verschwenden ? Na und das ist halt genau das Gleiche mit den Spaziergängern, den Gaffern und allen anderen, die durch die Straßen und Felder schleichen.

Heute dürfen nur noch diejenigen das Haus verlassen, die zur Arbeit gehen. Die letzte Möglichkeit, sich von zuhause zu entfernen und eventuell auf andere Leute zu treffen, hängt von der Arbeit ab. Wie schade, dass wir nicht alles virtuell machen können ! Fabriken, das Handwerk, Heizungen reparieren oder ein Fenster, Schlosserarbeiten, die Produktion im Agrar-Sektor oder in der Industrie, Krankenhäuser, Gefängnisse, Polizei, Altersheime, die Post, Supermärkte, Lebensmittelläden, Lebensmittellogistik... Auch die kleinen Leute tragen wirtschaftliche Risiken. Allerdings denkt man ja jetzt doch ganz anders über all diese Tätigkeiten. Finanziell müssen sie sich zwar immer noch ganz schön abstrampeln, aber heute hat man sie mehr im Blick. Sie sind einerseits diejenigen, denen man dankt und in den Medien und Ministerien Lobeshymnen singt. Und andererseits geht man ihnen gleichzeitig in der Nachbarschaft aus dem Weg, weil sie potentiell verseucht sind und den Virus in sich tragen.

Es stimmt schon, dass die Situation manchmal ungerecht ist. All die Leute, die in ihren kleinen Wohnungen in den Vorstädten eingesperrt sind, manchmal völlig isoliert oder, im Gegenteil, unglaublich beengt mit vielen Leuten auf kleinem Raum. Aber was wollt ihr denn ?! So ist das Leben und so wird es auch immer bleiben. Schließlich haben wir, Hervé und ich, ja auch auf vieles verzichtet für unser Häuschen in der Reihenhaussiedlung. Endlich werden unsere Mühen auch mal belohnt ! Jeder bekommt halt das, was er verdient. Eine andere Ungerechtigkeit betrifft das Alter. Die Risikogruppen, die Älteren, befinden sich auch in einer schwierigen Situation : isoliert, zu ihrem eigenen Schutz, und auf das Abstellgleis der Gesellschaft geschoben. Aber was soll’s, es ist schließlich zu ihrem besten.

Ich erinnere mich an eine Autorin, die über die Alten sagte : Sie hatten Angst, dass ich mein Geld verliere, also haben sie es mir genommen. Sie hatten Angst, dass ich einen Braten im Ofen vergesse, also haben sie mir verboten, zu kochen. Sie hatten Angst, dass ich böse falle, also haben sie mich am Stuhl fixiert. Heute könnte man hinzufügen : Sie hatten Angst, dass ich krank werde, also haben sie mich gezwungen, mich zuhause einzuschließen und niemanden mehr zu treffen.

Ich selbst habe schon noch Glück. Ich gehöre zu der Mehrheit der Leute, die im Homeoffice arbeiten können. Es ist wirklich schade für diejenigen, die weiterhin ihre systemrelevanten Jobs machen müssen, aber für uns im Homeoffice ist es schon auch angenehm. Endlich ist es vorbei mit langen Arbeitswegen, Stunden im Stau und Warten auf Straßenbahnen, die dann doch nicht kommen. Außerdem ist es auch gut für die Umwelt. Und wir konzentrieren uns auf das Wesentliche : Wir müssen uns keine Zeit mehr nehmen, um mit Kunden oder Kollegen rumzudiskutieren. Man macht seine Arbeit, man antwortet auf Mails und dann ist Schluss. Okay, naja, Schluss, ja es stimmt schon, dass die Verführung groß ist, auch nach Feierabend noch die Arbeitsplattform zu checken. Dafür habe ich aber viel Freude, wenn ich mit meinen Kleinen Zeit verbringen kann. Endlich kann ich ihnen beim Größerwerden zuschauen. Ich kann ihnen schöne Mahlzeiten kochen, sie baden und mit ihnen spielen. Und dann müssen ihre Sachen gewaschen werden, das Essen für alle anderen muss auf den Tisch und ich muss mich mit den Arbeitsanweisungen der Lehrer (von denen es bald endlich nicht mehr so viele geben muss) als Assistenzlehrerin versuchen. Sich tagsüber um die Kinder und den Haushalt kümmern, ist für mich ein Pluspunkt. Vorher musste ich das alles abends machen, einkaufen, kochen, Lucas zum Judo bringen und Alice zur Eishalle, Wäsche machen, den Kindern zuhören, Hausaufgaben machen. Jetzt habe ich mehr Zeit für das alles und auch mit Hervé.

Viele Leute beschweren sich über die Regelung, dass wir einmal wöchentlich raus dürfen. Es gibt keine Wochenenden mehr, diese zwei Tage, an denen die meisten nicht gearbeitet haben. Jetzt hat jeder Haushalt einmal pro Woche – zeitversetzt jeweils alle sechs Tage – das Recht für einen Tag ein bisschen weiter rauszukommen, einen Ausflug in die Berge zu machen oder ans Meer, einen Waldspaziergang, eine Fahrradtour oder eine Wanderung. Ich find das super : keine Staus mehr, kein Gedränge, keine ungewollten Begegnungen mehr mit Unbekannten. Dieses Quotensystem sorgt einerseits für Sicherheit und andererseits für unsere Ruhe.

Wir haben gute Lebensweisen angenommen und ich hoffe, dass das auch so bleiben wird. Egal, ob die Medizin eine Behandlungsmethode findet oder nicht. Inzwischen haben wir unsere Gewohnheiten zum Guten verändert und ich hoffe, dass das anhält. Unsere Leben sind geordneter und wieder mehr auf das traute Heim konzentriert. Vor allem was Sicherheit angeht läuft es jetzt viel besser. Seit Jahren schon haben wir mit Unterstützung der Stadt versucht, die Nachbarschaft solidarisch als „Wachsame Nachbarschaft“ zu organisieren. Aber die Leute haben das Potential dieses Ansatzes nicht erkannt : dass jeder, indem er die Augen offen hält und seine Umgebung überwacht, Abweichungen aufdecken und Dramen verhindern kann. Abgesehen von ein paar verantwortungslosen Spinnern überwacht jetzt jeder jeden und hat ein misstrauisches Auge auf die Abweichler. Wir wissen unsere Kinder und unsere Häuser endlich in Sicherheit.

Egal ob dieser Virus gestoppt wird oder nicht, unsere Gewohnheiten haben sich positiv verändert. Die Drohnen der Ordnungskräfte wachen über uns und die Gesichtserkennung macht es möglich, schädliche Personen schneller zu verhaften. Homeoffice ist jetzt der Normalfall und dieser Einzug der Arbeit ins Zuhause bringt viele Vorteile mit sich. Ich hoffe wirklich, dass diese guten Angewohnheiten sozialer Hygienik, die uns beschützen und uns ermöglichen, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren – unser kleines Anwesen und unsere Familie – lange anhalten werden.

[1Diese Semi-Fiktion erzählt aus der Ich-Perspektive einer Person, zu der und zu deren Monolog ein gendersensibler Umgang mit Sprache nicht passen würde. In der Übersetzung wurden für den literarischen Effekt daher die Maskulinformen aus dem Französischen übernommen.

[2Der französische Text nutzt hier mit „Telécran“ eine Wortneuschöpfung für ein ausgedachtes, neues Gerät. In der Übersetzung wurde daher auch eine Wortneuschöpfung gewählt.

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